2022: Solidarität in harten Zeiten
Rundbrief der Solidarischen Provinz
2022 neigt sich dem Ende zu – ein schlimmes Jahr, das uns alle auf vielen Ebenen herausgefordert hat; aber auch eines, das Solidarität großgeschrieben hat. Mit diesem Rundbrief zum Jahresende will die Solidarische Provinz über das Jahr für Geflüchtete im Wendland berichten und die Erfolge und Herausforderungen Revue passieren lassen
Krieg gegen die Ukraine
Februar 2022
Der Krieg gegen die Ukraine hat viele Ukrainer*innen vertrieben. Einige von ihnen haben hier im Wendland Aufnahme und Unterkunft gefunden – durch die große Bereitschaft von Bürger*innen, ihre Türen zu öffnen und Menschen zu beherbergen. Diese »Bürger*innen-Asyle«, im besten Sinne des Wortes, wurden in diesem Jahr hunderttausendfach geübt. Menschen haben erklärt, dass sie Flüchtende in ihrem Haus aufnehmen würden – die Bereitschaft war riesig, ein klares Signal für die Politik auch, dass die Menschen keineswegs die »Willkommenskultur« vergessen haben.
Doch leider hat die Flucht aus der Ukraine nicht für alle Menschen gleichermaßen gut geklappt und auch die Aufnahme hierzulande hat massive Konflikte hervorgerufen. Viele Schwarze Flüchtende aus der Ukraine berichteten schon in den ersten Kriegstagen von massiven Verzögerungen ihrer Ausreise an den Grenzen, rassistischer Trennungspolitik, ungewöhnlichen Kontrollen und vereinzelt auch Gewalt gegen BIPoC*-Flüchtende. Im Gegensatz zu den Flüchtenden mit ukrainischen Pässen waren Flüchtende aus Drittstaaten bis Mitte April in einer sehr prekären Lage – sie wussten nicht, ob ihnen nach Ablauf der Frist die Abschiebung in ihre Herkunftsstaaten bevorstand. Glücklicherweise und durch die beharrliche Arbeit von Zuflucht Wendland konnte dies verhindert werden – aber bis heute sind die Bleibeperspektiven vieler nicht-weißer Geflüchteter aus der Ukraine unsicher.
Viele Syrer*innen und Afghan*innen fragten sich auch angesichts der massiven Bereitschaft des Staates für Sonderlösungen im Fall der Ukraine, was ihnen diese Ungleichbehandlung sagen solle. Die rassistische Logik der Unterscheidung in wünschenswerte und unerwünschte Geflüchtete lag greifbar in der Luft. Die massiven Konfliktpotentiale sind bis heute nicht ausgeräumt durch eine fortdauernde Minderbevorteilung nicht-ukrainischer Flüchtender.
Dabei war auch für viele Ukrainer*innen die Unterbringungs- und Versorgungssituation im Landkreis keineswegs optimal. Bis heute stellt eine Turnhalle für Menschen ein Zuhause dar – Symbol einer verfehlten Sozialwohnungspolitik des Landkreises und einer daraus resultierenden Inflexibilität der Verwaltung, zeitnah bessere Lösungen zu erzeugen.
Das EU-Grenzregime im Osten
Seit August 2021
Ganz anders als Flüchtenden aus der Ukraine erging es dagegen Menschen, die weiterhin im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen festsaßen. Ihnen wurde kaum mehr Aufmerksamkeit zuteil, ihre Flucht wurde unsichtbar, ebenso wie die Gewalt, die ihnen tagtäglich angetan wird. Brutale Rückschiebungen, unmenschliche knastähnliche Unterbringungen in Polen, eisige Kälte und tödliche Nässe in den Wäldern – die Flucht nach Europa war selten widriger. Bis heute harren Tausende an den Grenzen aus, ihre Situation hat sich seit Beginn des Krieges nicht verbessert. Wahrlich nicht, wie die Unterstützung im grenznahen Bereich durch einige Aktive aus dem Wendland sichtbar machte. Es muss an dieser Stelle an die Brutalität des EU-Grenzregimes erinnert werden, um auch sichtbar zu machen, dass Solidarität und Wärme nur manchen zukommen. Wie immer muss es auch hier heißen: Öffnet die Grenzen für die Menschen! Bedingungslos grenzenlos!
Neu-Tramm: Kein T/Raum fürs Wohnen
März 2022
Noch im späten Frühjahr 2022 begann im Zuge des Ukrainekriegs im Landkreis eine Diskussion über Wohnraum. Rückblickend stechen dabei vor allem zwei Konzepte oder »Lösungen« heraus: die Debatte über den Kauf der alten Kasernen in Neu Tramm für eine zentrale Unterbringungslösung und die Inbetriebnahme der alten Verwaltungsgebäude der Schlachterei Vogler in Steine für die tatsächliche Unterbringung von Menschen.
Überraschend und zum blanken Entsetzen vieler Aktivist*innen passierte ein Antrag der Landrätin auf Erkundung einer Kaufoption auf das Kasernengelände in Neu Tramm ohne Gegenstimmen den Kreistag – mit Unterstützung aller Parteien und Bündnisse! Ein Unikum, das Auswirkungen darauf hatte, wie wir als Aktivist*innen mittlerweile leider allen politischen Parteien und Bündnissen begegnen müssen.
Begründet wurde der Antrag mit dem angekündigten Kontingent von über 800 geflüchteten Ukrainer*innen, die der Landkreis aufnehmen müsse. Einen besonderen Bedarf schienen in dieser Zeit eine Gruppe von Waisenkindern zu haben. Diese haben glücklicherweise letztendlich Plätze in bestehenden Jugendhilfeeinrichtungen bekommen.
Nachdem sich die Landrätin noch kurz vor Kriegsausbruch im Gespräch für dezentrale Unterbringungen, sinnvolle Neubauprojekte u.a. ausgesprochen hatte, wurden viele Aktive von der Ankündigung einer zentralen Unterkunft abseits von beinahe jeglicher Infrastruktur kalt überrascht. Die Solidarische Provinz organisierte eine Kundgebung vor dem Kreistag, verfasste Flugblätter und Leser*innenbriefe, suchte das Gespräch mit Kreistagsmitgliedern und einem Planungsbüro, das einen grünen Stadtteil vorgedacht hatte. Bis heute ist der Kauf nicht verwirklicht und eine Instandsetzung von Neu Tramm scheint weder zeitlich noch strukturell durch Anschluss und Bereitstellung von Kinderbetreuung und -transporte umsetzbar zu sein.
Erschreckend am Fall Neu Tramm – an dem bis heute im Büro der Landrätin gearbeitet wird – ist vor allem die Schnelligkeit mit der die Bereitschaft für eine zentrale Sammelunterkunft hergestellt werden konnte. Die Solidarische Provinz wendet sich entschieden gegen zentralisierende Sammelunterkünfte ohne sinnvolle nachbarschaftliche Einbindung und spricht sich für kleinteilige dezentralere Wohnformen aus. Ebenso wichtig ist eine infrastrukturelle und institutionelle Anbindung und eine Schaffung von Teilhabekonzepten bei Mobilität, Kultur und Gesundheit. Vorschläge für solche Lösungen sind mit Blick auf Neu Tramm auch gemacht worden – bislang ohne erkennbares Interesse seitens des Landkreises.
Steine: »Wohnen« im Schlachthof
Oktober 2022
Tatsächlich umgesetzt wurde dagegen die Unterbringung von knapp 20 Menschen im Verwaltungsgebäude der ehemaligen Schlachterei in Steine. Der Schlachthof ist nicht nur eine bauliche Großsünde, ein Immobilienspekulationsprojekt und sinnloser Leerstand – er ist auch der Ort von Kämpfen um die Wiedergewinnung des Dorfes Steine. Mitten in eine neuerliche Aufbruchsstimmung in Steine mit kreativen Besetzungen und alternativen Belebungsprojekten wurde dann in der zweiten Jahreshälfte aus den Gebäuden direkt an der Landesstraße eine Unterbringung gezimmert. Auch hier weit weg von wesentlicher Infrastruktur. Auch wenn die Unterbringung dort die akute Notsituation in der Turnhalle gelindert hat, hat es weder die Turnhalle überflüssig gemacht, noch eine besonders lebenswerte Situation für die Geflüchteten geschaffen. Immerhin ergeben sich stückweise Kontakte und ein Zusammenkommen zwischen Nachbar*innen, die sich für ein wiederbelebtes Steine engagieren, und den dort übergangsweise wohnenden Geflüchteten, auch wenn DRK und Landkreis diesen Kontakt am Liebsten unterbunden hätten.
Einbürgerungen für Niemanden
Seit Juni 2022
In der alltäglichen Unterstützungsarbeit mit Geflüchteten fiel in diesem Jahr auf, dass sehr viele Einbürgerungsanträge von Menschen aus Syrien und anderen Staaten nicht oder nur mit sehr großer Verzögerung bearbeitet wurden. Nach Protesten, Presseberichten, formalen Beschwerden und einer öffentlichen Diskussion über das Thema verändert sich die Situation langsam zum Positiven. Eine weitere Mitarbeiter*innen wurde mit den Aufgaben betraut. Weiterhin warten jedoch fast 100 Menschen auf eine Bearbeitung ihrer Anträge. Der Landkreis entschuldigte diese Situation mit Überbelastung und Unterbesetzungen. Wir sagen: die Prioritäten sind falsch gesetzt. Repressionen und Bürokratie können problemlos eingespart werden. Die massive Verschleppung ist ein Schlag ins Gesicht für die Betroffenen – dass ihnen auch nach so langer Zeit hier in Deutschland so klar gezeigt wird, dass sie Bürger*innen zweiten Ranges sein sollen. Und nicht zuletzt ist es auch bürgerrechtlich ein Skandal – viele Menschen hätten problemlos zur Landtagswahl wählen können mit den entsprechenden Staatsbürgerschaftspapieren. Erneut eine Wahl, an der sie nicht teilhaben konnten.
Asyl im Wendland:
Kirchenasyle und die Kampagne für Bürger*innenasyle
Auch in 2022 sind im Landkreis wieder einige Menschen in Kirchenasylen untergekommen. Dankenswerterweise sind die Gemeinden in Lüchow und Hitzacker bereit gewesen, den konkret vor Abschiebung in unmenschliche Verhältnisse betroffenen Menschen Zuflucht zu gewähren. In Lüchow wurde zuletzt eine Eriträerin vom Kirchenasyl geschützt, der die Abschiebung in die sichere Obdachlosigkeit und durch Ablehnung ihres Asylantrags im EU-Drittstaat auch die finale Abschiebung in ein aktives Kriegsgebiet drohte – nun hat sie immerhin die Chance, dass ihr Antrag materiell in Deutschland geprüft wird und die Bundesrepublik die Zuständigkeit für das Asylverfahren hat. Als Solidarische Provinz möchten wir an dieser Stelle nochmal ausdrücklich unseren Dank für die Evangelische Gemeinde in Lüchow aussprechen für dieses lange Kirchenasyl – es hat uns alle berührt und eine gute Zusammenarbeit gestärkt.
Die Solidarische Provinz engagierte sich auch in diesem Jahr für die Kampagne „Bürger*innenasyl“. Es ist unsere feste Überzeugung, dass alle Menschen das freie Recht haben sollten, ihren Zufluchtsort selbst bestimmen zu können. Wir setzten uns weiter für das Recht zu Gehen und zu Bleiben ein. Im „Bürger*innenasyl“ bieten Menschen ihren Wohnraum als Zufluchtsort an. Das kann ein Schutz vor Abschiebungen bedeuten, eine Pause vom krankmachenden Lagerleben sein oder eine Vorstellung von einer möglichen Zukunft eröffnen.
Wie oben schon angedeutet, haben viele Menschen ein solches „Recht“ ganz selbstverständlich gegenüber Ukrainer*innen ausgeübt. So sollte dies auch gegenüber allen anderen Menschen, die von Abschiebung und Gewalt bedroht sind, möglich sein. Aktiv unterstützen wir daher die Kampagne, wo immer unsere Hilfe nötig ist.
Was kostet schon die Welt…
Wir als Aktive der Solidarischen Provinz arbeiten unermüdlich daran, Menschen zu unterstützen, die in den Mühlen des Grenzregimes gefangen sind, von seinem Druck schier zerdrückt werden, die vor Angst und Sorgen keine Ruhe finden können oder denen direkte Abschiebegewalt angetan wird.
Diese Arbeit kostet Geld, damit wir Menschen auch direkt mit den notwendigen Mitteln ausstatten können, für medizinische, psychologische, karitative oder juristische Hilfe sorgen können. Jede Unterstützung dabei kommt direkt Menschen an den EU-Außengrenzen, im Kirchen- und Bürger*innenasyl zugute.
Daher freuen wir uns über alle Spenden für Bürger*innen-Asyl-Arbeit:
Verwendungszweck: Solidarische Provinz
IBAN: DE 78 1705 2000 1110 0262 22
Sparkasse Barnim